Mind-Body Integration

Aikido und Geist-Körper Integration von Curtis L. V. Adams, M.D.

Aikidojournal vom 6. August 2016 (Erstveröffentlichung einige Jahre vorher)
Quelle: 2016 und 2010
Auszugsweise ins Deutsche übertragen von Bernhard Boll



"Der Krieger muss über ein profundes Wissen seines Handwerks verfügen, um seine Philosophie umsetzen zu können: Sowohl sein eigenes Leben wie auch das des Feindes bewahren."


1967 nach vier Jahren in der Allgemeinen Medizin, begann ich mit meiner eigenen Psychiatrie Praxis. Ein großer Teil Patienten litt an psychischen Erkrankungen und ich begann gefräßig psychiatrische Literatur zu lesen. Ich wurde immer verwirrter, da mir so viele Systeme der Psychologie und Psychiatrie präsentiert wurden, von denen jedes für sich genommen in sich stimmig schien. Insgesamt erschienen mir diese Systeme aber widersprüchlich und verwirrend. Mein Bruder studierte damals Sprache und Kommunikation und während einer Diskussion mit ihm empfahl er mir als Lektüre die erkenntnistheoretische Abhandlung „Allgemeine Semantik“ von Alfred Korzybski (1879 – 1950). Ich folgte diesem Vorschlag, und wandte die in diesem Werk geschilderten Abstraktionsprinzipien auf meine eigenen Studien an. Danach klärte sich meine Verwirrung bemerkenswert auf. Ich genoss es, im Laufe der Jahre diese Grundsätze an meine Studenten, Patienten usw. weiterzugeben. Es machte mir Spaß zu beobachten, wie das Verständnis aufblühte, wenn ein Student sich nur lange genug mit einer Person befasste, die zum Beispiel in einem Dilemma steckte, für das es weder eine Diagnose noch eine Klassifizierung gab. So konnte er der Person helfen, ihre Situation zu klären und zu einer praktikablen Lösung zu finden.

Ich entdeckte meine zweite Leidenschaft im Jahr 1974. In diesem Sommer, verbrachten meine Familie und ich unseren Urlaub in einer Hütte an einem abgelegenen See. Ich aß viel, angelte viel und las reißerische Bücher. Eines davon beschrieb einen Helden, der Aikido einsetzte, um mit bösen Jungs fertig zu werden. Ich hatte ein Buch über Aikido in meiner Bibliothek, und nahm es zur Hand, sobald ich wieder zu Hause war. Durch eine glückliche Fügung kam im September diesen Jahres Dr. Greg Faulkner in meine Heimatstadt Huntsville, Alabama, um dort in der Raumfahrtindustrie zu arbeiten. Er gründete eine Aikidogruppe, in die ich eintrat. Seit damals übe ich und habe selbst auch eine Reihe von Jahren unterrichtet.

Mein allgemeines Wohlbefinden begann sich bald zu verbessern, nachdem ich mit Aikido begonnen hatte. Mein Körperhabitus veränderte sich, und die Leute bemerkten, dass ich mich freier bewegte. Als ein Psychiater Kollege einen Anfängerkurs besuchte, bemerkte ich zu ihm, dass sich Aikido von anderen Kampfsportarten in den inneren Werten unterscheide, und dass man dies in den Anfängerübungen noch nicht gut erkennen könne. Er war nicht dieser Meinung, und ich war nicht in der Lage meinen Standpunkt zu verteidigen. Eine Reihe von Jahren später wunderte sich der anerkannt beste Kämpfer in unserem Verband, ein Ingenieur, warum wir die ganzen Jahre lang alle fleißig weiter geübt hatten. Ich habe versucht, die Frage mit dem inneren Wert des Aikido zu beantworten, weil ich einfach davon überzeugt bin. Ich denke, es ist wie ein Werkzeug, das mir hilft "Sinn zu machen", vor allem angesichts von konfrontativen, aggressiven Menschen.

Die menschliche Fähigkeit etwas zu begreifen und zu objektivieren ist Grund für viele unserer Leistungen. Diese Fähigkeit ist aber auch der Grund für ein wesentliches Problem, das wir zu lösen haben: eine Zweiteilung zwischen einem subjektiven oder organischen Selbst und dem Selbstkonzept einer "Ich-Person" oder "Ich-Maske". Wir beschreiben uns nach Geltung, überbewerten uns und machen uns verwundbar, so dass wir vom Wind der Ereignisse weggeblasen werden können und dann mit einem verminderten Selbstwertgefühl enden. In diesem Beitrag werde ich diese Spaltung untersuchen und insbesondere, wie die Praxis der japanischen Kampfkunst Aikido, dieses Problem zu lösen hilft.

Dieser Bruch erfolgt im Rahmen der persönlichen Entwicklung. In einer normalen Entwicklung gibt es immer wieder eine Reorganisation des konzeptionellen Rahmens, so dass am Ende einer Entwicklungsstufe die Realitäten der Person und ihrer Welt wieder zueinander passen. Es gibt eine Zeit der Unruhe während der Reorganisation, die von der Umgebung toleriert und unterstützt werden muss. Da die meisten menschlichen Umgebungen keine derartigen Turbulenzen unterstützen, konnten nur wenige Menschen diesen Teil jeder Entwicklungsphase erfolgreich abschließen. Aus diesem Grund haben die meisten Menschen veraltete Ideen und überholte Schlussfolgerungen in ihrem konzeptionellen Rahmen.

Charles Kelly schrieb, dass es zwei Charaktertypen gibt, basierend auf zwei verschiedenen Arten von Konzeptualisierung: den Mechaniker und den Mystiker.
Der erste, der Mechaniker arbeitet in Konzepten, befasst sich mit der Welt mittels diskreter Einheiten, und behandelt die Welt als ob sie grundsätzlich statisch und unbeweglich sei. Er handelt und arbeitet an einer äußeren Realität unter Ausschluss von Subjektivität oder Bewusstsein.
Der Mystiker übertreibt den Aspekt des subjektiven "Gefühls" im Lebensprozess auf Kosten des objektiven Handlungs-Aspekts. Er erlangt die Überzeugung, dass subjektive Wirklichkeit vor der rein physischen Realität des Körpers und der Außenwelt existiert und sie überschreibt. Er entwickelte die Überzeugung, dass das Bewusstsein unabhängig vom Körper ist.

In seinem Essay über die Metaphysik, schrieb Henri Bergson (1859-1941): "Es gibt ein absolutes Wissen, das nur intuitiv erfahren werden kann (d.h. nur aus einer internen Anschauung). Alles andere fällt in den Bereich der Analyse", das heißt die Welt der Mechanik und der Mystiker. "Mit Intuition ist die Art der geistigen Sympathie gemeint, mit der man sich innerhalb eines Objekts platziert um Eins zu werden mit dem, was einzigartig in ihm ist und somit unaussprechlich. Es gibt eine Realität, die extern ist und doch sofort bewusst wird." Ich denke, das ist gemeint mit dem Ausdruck "auf der Ebene des Nonverbalen bleiben", worüber die ‚Allgemeine Semantik‘ spricht.

Alfred Korzybski, der die ‚Allgemeine Semantik‘ entwickelte, nannte diese intuitive Ebene die Ebene des Nonverbalen: die Ebene des Seins und Wissens ohne die Verwendung von Symbolen oder Wörtern. Er empfahl, auf der Ebene des Nonverbalen zu bleiben, bis man eine vollständige Kenntnis und Akzeptanz einer Situation erlangt hat. Wir müssen Wörter und Symbole verwenden um zu kommunizieren (d.h. die Konzepte verbal auszudrücken, Anm. d. Übers.); aber es ist wichtig, auf der Ebene des Nonverbalen zu bleiben, bis wir uns in Verbindung mit der äußeren Realität gesetzt haben. Diese Fähigkeit erhöht die Zuverlässigkeit unseres Abstraktionsprozesses, und erlaubt es uns, weitere Informationen zu sammeln, bevor wir zu Schlussfolgerungen, Ergebnissen etc. kommen.
Diese Konzepte haben mit meiner Arbeit als Psychiater zu tun, in der Hinsicht dass praktisch jeder Mensch ein ganz anderes Konzept von sich selbst hat, als das was in dieser Person gesehen oder wahrgenommen wird. Die Menschen definieren sich nach ihrem Status, ihrer Rolle, was ihnen vor Jahren über sie gesagt wurde, oder über veraltete Selbstdefinitionen. Häufig haben sie eine Auffassung von der äußeren Wirklichkeit, die exzentrisch ist und nicht allgemein anerkannt werden kann. Richtig angewandte Psychotherapie hilft der Person ein realistisches Gefühl ihrer selbst zu erlangen und hilft ihr, ein Konzept der äußeren Realität zu entwickeln, das in einem allgemeinen Konsens anerkannt werden kann.
Aikido ist eine weitere Möglichkeit, eine exaktere Wahrnehmung des Selbst und ein ziemlich zutreffendes Konzept der äußeren Realität zu entwickeln. Im Aikido gibt es die besondere Notwendigkeit, die Wirklichkeit zutreffend auszuwerten.

Morihei Ueshiba, Gründer des Aikido

Aikido ist eine moderne Kampfkunst, die ihren Ursprung in Japan hat, gegründet von Morihei Ueshiba. Ueshiba war ein Sucher, der in früher Jugend den Entschluss fasste, sich nie besiegen zu lassen. Er hatte gesehen wie sein Vater von Rohlingen im Dorf gepiesakt wurde, und beschlossen, dass er nie so ein Opfer sein wollte. Er begann das Studium der Kampfkünste als junger Mann, den Weg des Schwertes und den Weg der leeren Hand, Jujitsu, um schließlich in einer Kampfkunst namens Daito Jujitsu zu enden. Er war ein unbesiegter Kämpfer. Er war in der Lage mit einem Schwert oder mit der leeren Hand praktisch Jeden in einem Kampf zu schlagen und war sehr stolz auf seine Fähigkeit. Er war Sicherheitsverantwortlicher für eine spirituelle Gruppierung und später Nahkampfausbilder für die japanische Marine. Mit all diesen Fähigkeiten kam er in Konflikt mit einem engen Freund, einem Marineoffizier, der Fechtlehrer war.

Betrachten Sie das Paradoxon. Ueshiba war ein Mann, der sagte, er würde nie besiegt werden und der sehr stolz auf seine Kämpfe und seine Fähigkeit zu kämpfen war. Er stand jetzt einem Freund gegenüber, der ihn mit einem Holzschwert angegriffen hatte, um ihn zu töten. Er war in einer Situation, in der seine Selbstidentifikation mit einer externen und intuitiv gefühlten Realität in Konflikt geriet. Wann wird aus dem Freund ein Feind? Wie kann man einen Freund töten? Morihei Ueshiba kämpfte diesen "Kampf" mit dem Marineoffizier indem er sich nur defensiv bewegte. Wenn der Marineoffizier zuschlug, wich Ueshiba aus. Er fuhr mit der Ausweichtaktik fort, bis der Gegner schweißgebadet zusammenbrach. Dann ging Ueshiba hinaus in den Garten, wo er ein Gefühl von Licht erfuhr und eine Offenbarung über die Kampfkunst. Diese Offenbarung war, dass Kampfkunst nicht dazu dient, zu töten und die Feinde zu vernichten, sondern dazu, die Harmonie wiederherzustellen, die zuvor im Universum gestört worden war. Aus dieser Erfahrung, formulierte er ein neues Konzept von Budo oder dem ‚Weg des Krieges‘.

buUeshibas Konzept basierte teilweise auf der tatsächlichen Bedeutung des japanischen Schriftzeichen "Bu". Die Idee ist, dass ein Einzelner den Krieg oder den Kampf stoppt. Der obere Teil des Zeichens besteht aus zwei gekreuzten Hellebarden, die ein Beenden der Aggressivität anzeigen. Das untere Zeichen bedeutet wörtlich „stoppen“. Die Zusammensetzung bedeutet also "aufhören zu kämpfen" oder das Ende der Schlacht. Er nannte seine Methode der Selbstverteidigung ursprünglich Aiki-Jiu-Jitsu und später übernahm er die Bezeichnung Aikido. Aiki bedeutet Harmonie der Energien (des Ki). Mit dem Wort Do, welches Weg im geistigen Sinn bedeutet, hinzugefügt, wird daraus Aikido, „der Weg der Harmonie der Energien“. Aikido ist die aktuelle Bezeichnung des Weges von Morihei Ueshiba.

Abgesehen davon, dass es eine äußerst effektive Form der Selbstverteidigung ist, wurde Aikido eine Grundlage für das Streben nach dem wahren Selbst. Dieses Streben wird durch die ständige Neubeurteilung in Studium und Anwendung der Techniken des Aikidos umgesetzt. Um Aikido effektiv anwenden zu können, muss man ein Bewusstsein für den Körper pflegen, für die Position des Körpers im Raum und die Kraft seiner Bewegungen. Diese konstante Umwertung verursacht idealerweise eine Verschiebung von der Vorstellung eines Gegners, wie in der Selbstverteidigung, zur Vorstellung von Partnern, die einem helfen, das wahre Selbst wieder zu entdecken. Folglich machte er einen Sinn aus einem zuvor wahrgenommen Paradoxon. Seine Kampffähigkeiten blieben die gleichen oder wurden besser, aber in ihrer Anwendung änderten sie sich von Aggressivität in Zusammenarbeit.

Die Philosophie des Aikido ist der Höhepunkt einer Philosophie, die Jahrhunderte der Evolution benötigt hatte und einen wichtigen Teil des Lebens der Samurai darstellte.
Der erste Schritt in dieser Entwicklung war der Samurai oder Kriegsknecht. Er gehörte seinem Herrn und wenn es befohlen wurde, war es seine Aufgabe, den Feind zu töten. Die Samurai lernten, dass diese Art des Tötens geistiger Selbstmord ist.

Dann kam das Konzept der gegenseitigen Vernichtung, d. h. sein eigenes Leben zu opfern um den Feind zu töten. In dieser Situation entstand ein Gefühl der Wertschätzung des eigenen Lebens. Es handelt sich nicht um ein Opfer, wenn das eigene Leben wertlos ist.

Danach entwickelte sich das Konzept der gegenseitigen Erhaltung des Lebens, die Idee das feindliche Leben zu schonen und das eigene Leben zu erhalten. Der Krieger muss über eine profunde Kenntnis seines Handwerks verfügen, um eine Philosophie der Rettung seines und seines Feindes Leben umzusetzen. Ansonsten hat er keine andere Wahl, als zu töten oder getötet zu werden. Sein Wissen darf nicht von einer mechanischen oder mystischen Natur sein, das heißt, Abstraktionen haben keinen Platz, wenn Sie einem Feind gegenüber stehen, der gewandt auf dem Gebiet des Tötens ist und der entschlossen ist, Ihr Leben zu beenden. Das Wissen des Kriegers muss auf einer intuitiven Wahrnehmung von Bewegung und Kräften beruhen.
Vor dem Hintergrund der Zen-Erfahrungen der Samurai war Morihei Ueshiba in der Lage, seine Erleuchtung zu erfahren, aus der er sein Aikido entwickelte: "Der Weg der Harmonie".

Im realen Leben müssen wir uns sicher mit Aggressionen auseinandersetzen, die in vielen Kontexten entstehen. Wenn wir Angst haben, ziehen wir uns oft in die Welt der Gedanken und Fantasien zurück. Der Aikidoka muss die Fähigkeiten erlernen, seine Emotionen in Situationen zu beherrschen, wo die Bedrohung nur symbolisch ist. Wenn der Angriff aber physisch ist, und nur dann, hat der Aikidoka einen Ort, um "in den Geist des Angreifers einzutreten“ und den Angriff zu neutralisieren. Die Fähigkeiten, die für die Selbstverteidigung notwendig sind, können unterrichtet werden, müssen aber durch ständiges Üben selbst erlernt werden. Die erste dieser Fähigkeiten ist Opposition zu vermeiden. Das bedeutet, mit dem Angriff zu verschmelzen, ihn umleiten, usw. Das Zweite ist, weitere Aggression mit Techniken wie Festhaltegriffen oder Würfen etc. zu neutralisieren.

Aikido ist für die meisten, die aus anderen sportlichen Aktivitäten kommen, eine neuartige Erfahrung. In einem sicheren, nicht-kompetitiven Umfeld ist der Aikidoschüler in der Lage, den Umgang mit körperlicher Gewalt zu üben. Die gewohnte verbale Welt ist weniger wichtig. Wird der Schüler getroffen, so wird er verletzt. Dieses Wissen kommt nicht schematisch zum Schüler. Er setzt sich nicht an seinen Computer, um die Flugbahn, die Geschwindigkeit, oder die Masse einer Faust zu berechnen. Wenn er auch nur an derartiges denkt, spürt er schon den kontrollierten Schlag seines Übungspartners. Intuitiv lernt der Schüler, dass er, wenn er nicht da ist, wenn ein Schlag kommt, für einen Moment okay ist. Er ist noch nicht für immer gerettet, weil sein Angreifer eine Vielzahl von anderen Angriffe zur Verfügung hat. Aber der Schüler ist in diesem einzigen Augenblick okay.
Das ist das Einzige, was zählt.
In diesem Prozess lernt er, das Hier und Jetzt, den gegenwärtigen Augenblick zu schätzen. Er muss dann Fähigkeiten entwickeln, die den Angreifer in den folgenden Angriffen scheitern lassen. Er muss in der Lage sein, seine defensiven Techniken aufeinander folgen zu lassen, um eine kohärente persönliche Selbstverteidigung zu erreichen. Der Schüler entwickelt dabei ein intuitives Wissen von Zeit.

In diesem Prozess geschieht etwas mit dem Schüler. Er entfernt sich vom Abstrakten, der Welt des Konzepte Erstellens, seien es mechanische oder mystische. Obwohl der Aikidoschüler vielleicht in Biophysik ausgebildet ist und komplizierte Berechnungen anstellen kann, solange er diese Berechnungen anstellt, ist er nicht in der Welt, wie sie in diesem Moment existiert. Der Schüler mag ein Eingeweihter der Mystik sein, aber kein noch so mächtiges Bewusstsein, das von der Handlung getrennt ist, kann verhindern, dass er getroffen wird. Ein Schüler, der Aikido richtig übt, ist aus seinem Kopf heraus in sein Selbst gegangen, in seine Wahrnehmungen und seine Intuition, und hat eine effektive Art und Weise des Handelns entwickelt.
(Es folgt die Beschreibung zweier Beispiele von Aikidoschülern des Autors, die von einer unrealistischen Konzipierung ihres Selbsts durch Aikido zu einer besseren Integration in die Realität finden.)
Bewegung ist eine metaphysische Idee. Man kann sich damit nicht auf seinem Computer auseinander setzen, vor allem, wenn gerade eine Faust in Richtung Nase kommt. Der Aikidoschüler muss handeln und darf nicht dort sein, wo die Faust ankommt. Es muss eine Transformation der Art und Weise seines Seins geschehen. Er kann dann unter Menschen sein, ohne total verängstigt zu sein, denn seine Fähigkeiten sind so, dass er nicht seine 38er ziehen muss, um jemandem das Gehirn wegzublasen und ins Gefängnis zu gehen oder spirituell zu verarmen. Er kann Aggressionen in einer kontrollierten und rationalen Weise bewältigen, ohne bis zum Letzten gehen zu müssen.

Es ist etwas Anderes was da passiert. Es gibt Reflexe im menschlichen Körper, die angesprochen werden, wenn zum Beispiel eine Person gewürgt wird. Zu dem Zeitpunkt dieses heftigen Angriffs, muss der Reflex aber eingefroren werden. Die Menschen sind weder Kämpfer noch Läufer; wir sind Gefriergeräte. Wenn eine Person den Reflex überwinden kann, ist sie in der Lage, sorgfältig entwickelte Techniken der Selbstverteidigung anzuwenden. Damit kann sie dann den Angreifer machtlos machen.

Wenn wir uns Aikido Fähigkeiten aneignen, korrigieren wir die Spaltung zwischen dem Begriff des Selbst und dem wahren Selbst. Die Bewegung in den Körper hinein gibt eine Gelegenheit, Einstellungen zu finden und zu korrigieren und gespeicherte Körpererinnerungen zu integrieren. Wenn eine Person sich bewegt und zurück in die Intuition des Selbst gegangen ist, so kann sie die Dinge in sich fühlen, in ihrem Körper, wo Erfahrungen gespeichert sind.

Ein persönliches Beispiel dafür ist in eine Erfahrung von mir auf der Matte. Wir übten Abwehr gegen Würgen in einem besonders intensiven Training. Ich fühlte mich blockiert, war nicht in der Lage zu üben und war etwas emotional. Ich folgte unserer Praxis, sich in solchen Situationen einfach an den Rand der Matte zu setzen, um wieder Ruhe zu finden. Ich hatte eine visuelle Erinnerung an ein Ereignis, das in meiner frühen Jugend passiert war. Ein Onkel war bei uns zu Besuch und wir begannen ein Geplänkel. Die Sticheleien wurden etwas grausamer und ich antwortete, indem ich einen wunden Punkt meines Onkels erwähnte. Er geriet in Wut und griff mich mit den Händen um den Hals. Mein Stuhl kippte um, er war über mir und würgte mich. Ich wäre tot gewesen, wenn nicht mein Vater eingegriffen hätte. Bis zu diesem Zeitpunkt auf der Aikido-Matte erinnerte ich mich an das Ereignis ohne Emotionen und dachte, das Geschehen sei aufgelöst worden, aber ich war immer misstrauisch gegenüber jedem, den ich für potenziell aufbrausend hielt. Im Anschluss an diese Aikidostunde verbesserte sich mein Vertrauen zu anderen erheblich.

Das also ist der Weg, das Aikido, das vom Begrifflichen wegführt zurück zum Wirklichen. Während man eine äußerst effektive Selbstverteidigung entwickelt, setzt man sich mit Hemmungen und Verboten auseinander, die man im Körper im limbischen Systems gespeichert hat, und findet Wege, sie ins Bewusstsein zu bringen, so dass sie in ein funktionierendes Selbst integriert werden können.

Wenn man eine derart effektive Verteidigung gegen die Aggression beherrscht, ist man in der Lage, länger im Nonverbalen zu bleiben, auch bei aggressivem Mobbing, und kann seinem Denken erlauben, sich in Richtung einer Lösung zu bewegen.
Im Aikido bewegt man sich in Richtung des wahren Selbst, subjektiv wahrgenommen und intuitiv gefühlt. Man integriert die Wirklichkeit, wie die Sinne sie erfahren, und leitet Konzepte aus diesem Prozess so ab, dass die Ziele von der Wahrnehmung der eigenen inneren Zustände gesetzt werden und dann frei gesucht werden können, ohne die Verbote und Hemmungen, die wir sonst gerne in uns selbst aufbauen.